Wednesday, 14 December 2022

Hilde Domin: 'Die schwersten Wege'



Die schwersten Wege

 

Die schwersten Wege 

werden alleine gegangen,

die Enttäuschung, der Verlust,

das Opfer,

sind einsam.

Selbst der Tote der jedem Ruf antwortet

und sich keiner Bitte versagt

steht uns nicht bei

und sieht zu

ob wir es vermögen.

Die Hände der Lebenden die sich ausstrecken

ohne uns zu erreichen

sind wie die Äste der Bäume im Winter.

Alle Vögel schweigen.

Man hört nur den eigenen Schritt

und den Schritt den der Fuß

noch nicht gegangen ist aber gehen wird.

 

Stehenbleiben und sich Umdrehen

hilft nicht. Es muß

gegangen sein.

Nimm eine Kerze in die Hand

wie in den Katakomben,

das kleine Licht atmet kaum.

Und doch, wenn du lange gegangen bist,

bleibt das Wunder nicht aus,

weil das Wunder immer geschieht,

und weil wir ohne Gnade

nicht leben können:

die Kerze wird hell vom freien Atem des Tags,

du bläst sie lächelnd aus

wenn du in die Sonne trittst

und unter den blühenden Gärten

die Stadt vor dir liegt

und in deinem Haus

dir der Tisch weiß gedeckt ist.

Und die verlierbaren Lebenden

und die unverlierbaren Toten

dir das Brot brechen und den Wein reichen -

und du ihre Stimme wieder hörst

ganz nahe

bei deinem Herzen.

 

 

The hardest paths

 

The hardest paths

are those which are walked alone,

disappointment, loss,

sacrifice are only

known in isolation.

Even the dead one who answers every call

and refuses no request

does not stand by us

and watches to see

if we are capable.

The hands of the living that stretch out

without reaching us

are like the boughs of trees in winter.

All the birds are silent.

One only hears one’s own footsteps

and the step which the foot

has not yet taken but is about to.

 

To stop up and turn round

does not help. The path

must be taken.

Take a candle in your hand

as in the catacombs,

the tiny light scarcely breathes.

And yet, when you have walked a long way,

the miracle does not fail to appear,

because the miracle always takes place,

and because without mercy we are

not able to live:

the candle burns bright from the free breath of day,

you blow it out with a smile

when stepping out into the sun

and beneath the garden in bloom

the town lies before you

and inside your house

your table has been decked in white.

And the losable living

and the unlosable dead

break your bread for you and pass you the wine –

and you hear their voice once more

right up close

to your heart.

 

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